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Film- und Wirtschaftsdramaturg Ip Wischin im Gespräch
 
       
       
Ip Wischin

Film- & Wirtschaftsdramaturg

Kultur
29.01.2022
Ippolit Wischinsky – oder kurz: Ip Wischin – ist dramaturgischer Berater und Filmcoach mit russisch-österreichischen Wurzeln. Seine berufliche Laufbahn umfasst Stationen als Drehbuchautor für den ORF, er war Schauspieler & künstlerischer Leiter im Pygmalion Theater in Wien, Regisseur für unterschiedliche Film- und Fernsehprojekte sowie PR-Berater für Unternehmen. Im Zuge seiner Workshops berät und coacht er Schauspieler genauso wie Geschäftsführer. Als Gastredner ist Ip Wischin international gefragt und er trat bereits als Sprecher bei der länderübergreifend organisierten TED-Talks-Reihe auf. Außerdem ist er Autor des Filmlehrbuchs »Skript-Doktor!«, in dem er Theorie und Praxis zur Analyse von Drehbüchern erläutert.

Haben Sie zum Beginn des Interviews ein paar Tipps, wie unser Gespräch den richtigen dramaturgischen Aufbau erhält? In einem Ihrer Bücher schreiben Sie darüber, wie Dialoge funktionieren.

Mein Rat wäre, ein Spannungsfeld aufzumachen, also auf eine Dichotomie hinzusteuern, auf irgendeinen moralisch inhärenten Gegensatz.

Was wäre das bei Ihnen beispielsweise?

Wenn ich mit einem Dramaturgen zu tun habe, würde ich fragen: »Was sind die schlimmsten Fehler, die einem Dramaturgen begegnen?« Das würde mich beispielsweise sofort zu irgendetwas reizen. Oder man macht einen Vorschlag, wie man etwas dramaturgisch gestaltet, sodass ich sofort einschreiten muss, weil es so einfach nicht geht. Anders gesagt, mich mit Aussagen zu »triggern«, wie man so schön sagt.

Mit welcher Frage oder mit welchem Fehltritt als Interviewer würde ich Sie »triggern« oder wann würden Sie das Interview sogar abbrechen?

Ich bin ein großer Freund von Diskurs und einer »diversity of opinion«. Das heißt, dass so etwas nicht so schnell passiert, es sei denn, ich werde persönlich angegriffen. Was bei mir durchaus zu einem Ausschlag führen kann: Wenn man von mir verlangt, dass ich beim Sprechen gendere. Wenn ich andauernd Sternderl erwähnen müsste. Für jemanden, dem die westliche Kultur am Herzen liegt – wozu ich mich zähle –, ist dieses Top-down-Management der Sprache unerträglich.
»Man ahnt nicht, wie totalitär man unterwegs ist, wenn man glaubt, das Richtige zu tun«

Also von selbsternannten Eliten gemachte Vorgaben.

So ist es! Sprache entsteht und verändert sich organisch am Marktplatz, also dort, wo die Leute sprechen. Es wandert also von unten nach oben und ist eine Bottom-up-Bewegung. Irgendwann kommt das dann oben an. Ein typisches Beispiel dafür ist die »Lingua Tertii Imperii«, die Sprache des Dritten Reichs. Viktor Klemperer hat ein schönes Buch darüber geschrieben. Da hat man probiert, die Köpfe der Menschen zu programmieren, indem man die Sprache verändert und bestimmte Wörter nicht mehr verwenden durfte und andere furchtbare Wörter, wie beispielsweise »Endlösung«, forciert hat. Man ahnt nicht, wie totalitär man unterwegs ist, wenn man glaubt, das Richtige zu tun. Die Gender-Sprache ist ja dazu da, mehr Gerechtigkeit in die Welt zu tragen. Aber nach wessen Vorstellungen? Es ist eine sehr einseitige Sicht der Welt und der Dinge.

Ist es dann so, dass Länder oder Parteien, die sehr autoritär geführt werden – beispielsweise die Kommunistische Partei in China –, zum Scheitern verurteilt sind in der Betrachtungsweise der Geschichte? Es wird sehr viel von oben vorgegeben, gleichzeitig hat China die letzten Jahre und Jahrzehnte einen starken wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Aufschwung erlebt, was als durchaus erfolgreich bezeichnet werden kann.

Ich weiß nicht, ob es zum Scheitern verurteilt ist, aber ich hoffe es! So wie es aussieht, lag George Orwell mit seinen Prophezeiungen nicht so daneben. Es gibt diesen Spruch »Make 1984 fiction again!«. Wir sind sehr nahe an einem Überwachungsstaat, und es wird uns gesagt, wie wir etwas zu formulieren haben und was wir sagen dürfen, um nicht sofort »gedisst« zu werden. Es gibt Leute, die ihren Job verlieren wegen eines Satzes, den sie gesagt haben. Von Redefreiheit kann da ja keine Rede mehr sein.

Gehört zum geschichtlichen Verlauf nicht dazu, dass es zwischen zwei Machtpolen – klassischerweise links und rechts – hin- und hergeht?

Das Problem ist nur, wenn man sich gerade in einer Phase der Extreme befindet. Der Nationalsozialismus oder der Stalinismus sind Positionen, die ich nicht unbedingt gerne wieder hätte. In meinem Buch gibt es ein Kapitel mit dem Titel »Warum Ideen Bullshit sind«. Ein guter Filmemacher ist nicht unbedingt jemand, der gute Ideen hat, sondern jemand, der es verstanden hat, gute Übersetzungsleistungen zu bringen – beispielsweise von einem Roman in ein anderes Medium. Es geht darum, dass gute Ideen fast immer schädlich sind, im soziologischen Sinne. Folgendes Beispiel: Ich liebe einen Baum im Garten und denke mir, dass ich in dessen Schatten jetzt ein Buch lesen werde. Nichts davon kann man als Idee bezeichnen. Eine Idee wäre, den Baum umzuschneiden, um das Holz zu verkaufen. Eine Idee greift also immer in etwas Bestehendes ein. Natürlich kann es eine gute Idee sein, den Baum umzuschneiden, um das Holz zu verkaufen. Aber irgendwie habe ich eine Sympathie für Bäume und bin daher dafür, keine Idee zu haben.
Im Interview: Film- und Wirtschaftsdramaturg Ip Wischin

An anderer Stelle desselben Buchs schreiben Sie über Skript-Doktoren, also Menschen, die Drehbücher analysieren. In dem Zusammenhang meinten Sie, dass ein Skript-Doktor allerdings kein guter Drehbuchautor sein muss, weil er im Zuge der Analyse wenigstens nicht seinen eigenen Stil verfolgt. Ist das pauschal auf Berater oder Kritiker umzulegen? Sollen Politberater, Wirtschaftscoaches, Rhetoriktrainer oder Literaturkritiker tatsächlich schlechter als ihre Schüler oder Kunden sein?

Nicht schlechter – objektiver! Wenn ich ein Filmemacher bin, verfolge ich einen bestimmten Stil. Wenn ich jemanden berate, der möglicherweise ganz anders veranlagt ist, besteht die Gefahr, meinen Stil aufzudrängen und in meine Richtung zu bewegen, wenn vielleicht auch unbewusst. Wenn ich allerdings rein funktional vorgehe, frage ich danach, was derjenige erreichen möchte – einen Preis bei einem Festival, die Entfaltung seiner Persönlichkeit oder vielleicht viel Geld zu verdienen. Ein Architekturberater ist in Wirklichkeit nichts anderes als ein Statiker. Er muss schauen, dass das Ding nicht zusammenkracht. Es geht aber nicht darum, ob er einen konservativen Architekturgeschmack mag oder nicht. Dann hätte er seinen Beruf verfehlt. Nichts anderes mache ich als dramaturgischer Berater. Ich schaue, ob die richtigen Mittel für das gewünschte Ziel erreicht werden.

Neben der Filmdramaturgie haben Sie sich der Wirtschaftsdramaturgie verschrieben. Was können sich Geschäftsführer und Aufsichtsratsvorsitzende von Starregisseuren wie Alfred Hitchcock, Martin Scorsese oder vielleicht auch Quentin Tarantino abschauen?

Jedenfalls, dass es wichtig ist, Storytelling zu verstehen. Jeder Akteur innerhalb eines Unternehmens ist im wahrsten Sinn des Wortes Akteur. Das Unternehmen selbst ist die Bühne und alles zur Verfügung gestellte Arbeitsmaterial ist Requisite. Und jeder Einzelne auf der Bühne hat eine Rolle zugewiesen. Und dieses Rollenbild ist ganz wichtig, um zu wissen, mit welchem Gestus ich meine Mitarbeiter adressiere. Ist das top-down und abfällig, weil die Mitarbeiter nur als ausführende Organe verstanden werden, oder werden »grassroots« und Bewegungen möglich gemacht? Wird auf die Erfahrungen der Basis gehört? Die sind an der Front und haben direkt mit dem Kunden Kontakt. Die spüren am eigenen Leib, wie das Unternehmen in der Gesellschaft ankommt. Solch ein »Bottom-up«-Informationsstrom ist eines der wichtigsten Dinge im Sinne einer Selbstwahrnehmung der eigenen Rolle eines Unternehmens.

Der Begriff »Corporate Storytelling« sagt nichts anderes, als dass Unternehmen ihre Sicht der Dinge marketingtechnisch perfekt inszenieren, um für unterschiedliche Anspruchsgruppen – beispielsweise auch die breite Medienöffentlichkeit – so positiv wie möglich dazustehen. »Inszenierung« und »Geschichtenerzählung« beinhaltet in gewisser Weise aber auch ein »G’schichtl drucken«, also der Fantasie freien Lauf zu lassen, um die Wirklichkeit bestmöglich zu verzerren.

Genau das Gegenteil davon predige ich! Wir erzählen die Storys der Mitarbeiter, wenn natürlich auch selektiv, damit die interessanten Storys erzählt werden. Es geht darum, die Wahrnehmung jeder einzelnen Ebene im Unternehmen abzubilden. Es geht darum, erlebbar zu machen, was der einfache Mitarbeiter tagtäglich erlebt. Wenn diese Storys unternehmensweit wahrgenommen werden, kann das viel bewirken! Das kann über Videokanäle oder das firmeneigene Intranet passieren, und zwar so, dass es das ganze Unternehmen bis hin zum CEO mitbekommt. Oftmals sieht man Bilder mit generischen Mitarbeitern, die Siegerposen machen und jubeln, weil man die Mitarbeiter gerne so hätte. Was auf diesen Bildern nicht erzählt wird: Die Siegerpose ist das Ende eines Prozesses, der mit der Überwindung von Hindernissen zu tun hatte. Dieser interessante Prozess wird in der Kommunikation aber meist ausgelassen. Mit diesem Prozess identifiziert sich der Mitarbeiter allerdings. Wenn man diesen Prozess der Überwindung von Hindernissen erzählt, ergibt sich die Jubelpose von selbst. Deswegen glaube ich nicht ans »G’schichtldrucken«. Alles nur schön zu reden kann nicht funktionieren, weil die Mitarbeiter dann genau wissen, dass es sich dabei nur um irgendwelche Parolen von oben handelt.

Ich würde Ihnen nun gerne ein Zitat vorlesen, das in einem Interview vor nicht allzu langer Zeit gefallen ist und umgehend Auslöser für eine Unternehmenskrise war. Das Zitat lautet: »Ich bin auf Distanz zu Winterkorn«, vom VW-Aufsichtsratvorsitzenden Ferdinand Piëch in einem Spiegel-Interview im April 2015 über den damaligen VW-CEO Martin Winterkorn. Das Zitat hatte zur Folge, dass der langjährig einflussreiche Piëch von allen Funktionen zurückgetreten ist und sogar seine VW-Anteile verkauft hat.

Ich glaube nicht, dass ihm dieser Satz von irgendeinem Berater eingeflüstert wurde. Der Satz dürfte eher zwischen Tür und Angel gefallen sein.

Es war während eines Interviews mit einem großen Nachrichtenmagazin. Es dürfte sich also um eine sehr bewusste Aussage gehandelt haben, um sich öffentlich zu positionieren.

Es wird ihm in dem Moment als wichtig erschienen sein, Distanz zu schaffen. Vielleicht hat er sich in die Enge getrieben gefühlt.

Manche Beobachter munkeln, dass er unter Umständen schon gesehen hat, was womöglich auf den Konzern zurollen könnte – später bekannt als der »Abgasskandal«. 

Ach so, okay, mag sein. Ich würde jedenfalls niemandem zu solch einem Satz raten. Es handelt sich um eine individuelle Aussage, die nichts mit einer Kampagne zu tun hat. Das ist eher etwas für Spin-Doktoren.

Solch ein Satz hat doch einen sehr dramaturgischen Wert. Ausgehend davon, ist bei VW und in der Autobranche viel ins Rollen gekommen.

Ich weiß nicht, ob das tatsächliche Wellen an der Basis verursacht hat, also bei den Leuten, die die Autoteile zusammenschweißen oder an den Fließbändern stehen. Ich glaube auch nicht, dass es bei den Kunden wirklich etwas ausgelöst hat. Erst der Abgasskandal hat etwas ausgelöst. Bei einem Satz wie dem vorher erwähnten, rappelt es halt in der Kiste – allerdings eher auf der Managementebene. Dort gibt es dann Machtkämpfe. Je weiter man aber nach unten geht, desto weniger pflanzt sich das fort. Das ist zumindest meine Mutmaßung. 

Weil sie vorhin von Spin-Doktoren gesprochen haben: Würde es Sie reizen, wenn eine politische Partei auf Sie zukommt und sagt, dass sie Ihre dramaturgischen Fähigkeiten für sich nutzen will?

Das ist mit vielen Sachen verbunden, die mir unangenehm sind. Man muss sich dort in den Betrieb eingliedern. Ich war einige Zeit lang politisch tätig. Das Umfeld liegt mir nicht. Bei parteipolitischen Tätigkeiten wird viel intrigiert und taktiert. Das ist eher etwas für einen Machiavellisten als für mich.
Im Gespräch mit Film- und Wirtschaftsdramaturg Ip Wischin

Welche bekannten Dramaturgen sind Ihrer Meinung nach komplett überschätzt, und welche unbekannteren sind hingegen total unterschätzt und stehen daher zu unrecht nicht im Rampenlicht?

Überschätzt werden die Autoren der großen Lehrbücher. Das sind vor allem Blake Snyder, Robert McKee, Syd Field und Christopher Vogler. Wer vernachlässigt wird, den ich hingegen vorbildhaft finde, ist Lajos Egri.

Wenn wir nun von der Wirtschaft oder vom Film ins Privatleben kommen: Was kann sich jeder Einzelne vom Filmhandwerk und dessen Dramaturgie für den Alltag abschauen?

Sehr viel! Im Film lernt man, in Konflikten zu denken. Wenn ich mir eine Szene ausdenke, mache ich eine Art Konfliktdesign. Ich schaue mir den Konflikt als Rohmaterial an und verforme ihn so, dass er maximale Wirkkraft hat. Das bedeutet, dass ich mich vorerst auf einen Punkt konzentriere – auf den Konfliktgegenstand. Den setze ich dann in ein Umfeld von jemandem, der diesen Konfliktgegenstand für sich beansprucht, und einem, der ihn bearbeiten, verändern oder zerstören möchte. Meist ist das etwas Abstraktes, wie Zuneigung, Aufmerksamkeit, Loyalität, Freundschaft, Versprechungen und solche Sachen. Wenn man sich eine Eifersuchtsszene ansieht, weil beispielsweise ein früheres inniges Liebesverhältnis zerbröckelt, hat man meist zwei Menschen, die etwas verbindet ... nämlich eine gemeinsame Vorgeschichte! Was ich mir fürs Privatleben abschauen kann, ist Folgendes: Je mehr ich versuche, eine bindende Prämisse zu verstärken, desto mehr verstärke ich auch den Konflikt. Man könnte es auch als »klammern« bezeichnen. Wenn ich klammere, mache ich eine Situation alles andere als leichter. Ich kann mir in Szenen also immer anschauen, wer passiv und aktiv ist, was verbindet die Akteure, und wie ist es möglich, einen Konflikt zu lösen? Man könnte die bindende Prämisse und den Konfliktgegenstand beispielsweise vertauschen.

Hätten Sie dazu ein Beispiel?

Bleiben wir beim Beziehungsproblem: Treue und Aufmerksamkeit sind der Konfliktgegenstand. Beide Personen verbindet ein vages Versprechen, das früher einmal gegeben wurde. Wenn dieses Versprechen der Konfliktgegenstand ist, verbindet die beiden die Treue. Wenn ich davon ausgehe, dass die Treue passt, erlaube ich mir keinen Zweifel, sondern hinterfrage, ob dieses frühere Versprechen vielleicht obsolet geworden ist. Ich vertausche also den Kontext und die Zuordnung. Man nennt das auch »reframing«. 

Sie verdrehen also die Perspektive.

Genau. Das ist eine von vielen Techniken, die man von Situation zu Situation anders betrachten muss.
»Drama ist für Zuseher unterhaltsam, aber nicht für die Beteiligten«

Denken Sie sich manchmal, wenn Sie privat mit Ihrer Partnerin oder mit Freunden unterwegs sind und es entsteht ein Konflikt oder auch nur das Potential dazu: »So, jetzt mach ich eine Szene. Wenn du Drama willst, bekommst du es!«?

Drama ist für Zuseher unterhaltsam, aber nicht für die Beteiligten. 

Je nachdem, wie hoch man das Drama pusht, oder?

Na ja ... ich würde meine dramaturgischen Fähigkeiten eher zur Deeskalation verwenden und nicht, um daraus eine Szene zu machen. Szenen sind nur für die Zuschauer lustig. 

Manchmal muss man doch etwas zum Explodieren bringen, um zu wissen, dass der Höhepunkt erreicht ist.

Das passiert einem, auch mir manchmal. Ich bereue das danach aber sofort! Wenn ich es mir dann dramaturgisch ansehe, frage ich mich, wie man einen konstruktiven Dialog daraus machen kann. Und nicht, wie ich das eskalieren lassen kann. Das wäre eher im Sinne eines reinigenden Gewitters. Das ist zwar eine nette Metapher, wobei ich nicht wirklich glaube, dass das etwas bringt. Es sei denn, das Problem befindet sich auf einer emotional tiefenpsychologischen Ebene. Das wäre, wenn jemand beispielsweise der Meinung ist, dass man zu wenig Geschlechtsverkehr miteinander hat, diese Meinung gleichzeitig aber nicht artikulieren kann. Das kann sich dann anders entladen und unter Umständen zu einer Lösung führen, indem der emotionale Druck rausgelassen wird. Meiner Erfahrungswelt entspricht das allerdings nicht, weswegen das eher hypothetisch ist.

Wir befinden uns nun im dritten Jahr einer weltweiten Pandemie. Genug Drama und auch dramaturgische Höhepunkte und Tiefpunkte für die nächsten Jahre, möchte man meinen. Haben Sie Techniken, die Drama ganz bewusst vermeiden bzw. eine mögliche Dramaturgie bis zur gähnenden Langeweile abflachen lassen? 

Das ist von idiosynkratischen Faktoren abhängig. Ich habe mich viele Jahre mit Zen-Buddhismus befasst. Dabei muss man acht Stunden am Tag mit dem Gesicht zur Wand im Lotussitz sitzen.

Das haben Sie gemacht?

Ja, ich habe auch die Mönchsweihe bekommen. Ich bin offiziell Zen-Buddhist, praktiziere allerdings nicht mehr. Mein Tipp gegen die Langeweile ist, sie zu umarmen. Das ist zumindest eine Möglichkeit. Mittlerweile habe ich wieder ein Faible fürs Lesen entdeckt.

Wie ist es, wenn man acht Stunden vor einer Wand sitzt und sie ansieht?

Schmerzhaft.

Körperlich oder geistig?

Körperlich! Seelisch vielleicht am Anfang. Die Knie tun höllisch weh, wenn man acht Stunden im Lotussitz sitzt.

Was geht in einem vor, wenn man acht Stunden vor einer Wand sitzt?

Man bemüht sich, dass nichts in einem vorgeht, was unmöglich ist.

Kein Essen, kein Trinken, kein Klogang.

Doch, doch, doch. Die acht Stunden sind nicht am Stück, sondern über den Tag verteilt. Meist sitzt man dreißig bis fünfzig Minuten am Stück. Dann steht man auf und geht mehrmals im Kreis, um die Knie zu strecken. Dann geht man wieder zum Sitzkissen. Zwischendurch geht der Meister die Runde und hat eine Art Holzschwert in der Hand. Wenn man ihn vorbeigehen hört und ihm ein Zeichen gibt, schlägt er einem damit auf den steifen Rücken, damit man Erleichterung erfährt. Wenn man sich denkt, dass es jetzt wieder dreißig Minuten dauert, dann hält man das nicht aus. Wenn man sich allerdings von Atemzug zu Atemzug hantelt, ist man völlig in der Gegenwart. Das ist das Ziel vom Buddhismus. Nicht an der Vergangenheit zu hängen und keine Fantasien für die Zukunft zu spinnen. Keine großen Pläne schmieden, sondern im Hier und Jetzt mit dem Atemzug zu leben und die Realität zu umarmen, so real sie auch ist.

Lieblings-

Buch: How to be a Conservative (Roger Scruton)
Film: Ordet
Song: Vermutlich ein Song aus der »Winterreise« von Franz Schubert
Schauspieler/in: Bruno Ganz
Motto: Es ist besser, das zu lieben, was ist, als das, was nicht ist.
Autor/in: Thomas Bernhard, Fjodor Dostojewski, Franz Kafka, Roger Scruton, Stendhal, Honoré de Balzac
Serie: Die Sopranos, Breaking Bad
Stadt: Cirencester
Land: England, aber im Viktorianischen Zeitalter
Gericht: Wiener Schnitzel und klassische Hausmannskost
Getränk: Wein

Persönliches Mitbringsel

Mein Selbstverteidigungsschirm. Den habe ich immer bei mir – egal, ob es regnet oder nicht. Das ist ein semiotisches Ding, das mich sofort von einer Liste potentieller Opfer streicht. Wenn jemand auf der Suche nach Ärger ist, sieht der mich gar nicht. Der Schirm ist überhaupt nicht aggressiv und eignet sich nur sekundär als Waffe, zeigt aber die Wirkung und ist stabil gebaut. 

Schönstes und negativstes Erlebnis der vergangenen Woche

Schönstes: Was immer schön ist, wenn ich von meinen Schülern positives Feedback bekomme und ich das Gefühl habe, dass sie im Unterricht profitiert haben. Gestern hatte ich beispielsweise ein Zoom-Meeting mit einer Filmproduktionsfirma, und als ich nach Feedback gefragt habe, waren alle sehr euphorisch. Das war ein für mich sehr positives Erlebnis.

Negativstes: Manchmal, wenn ich in der Früh aufstehe, kommt es vor, dass ich das Gefühl habe, den Tag nicht durchzustehen ohne ein Mindestquantum an Alkohol. Ich bemühe mich, nicht vor dem Abend zu trinken, schaffe es aber nicht immer. Heute ist so ein Tag. Dann überlege ich, wohin der Zug mit der ganzen Pandemie geht, und habe dann ein sehr pessimistisches Weltbild. An solchen Tagen sehe ich die Weinflasche und denke mir, dass es noch sehr früh ist.

Berufswunsch als Kind

Chirurg, Astrophysiker, Revolutionsführer und dann Filmemacher

Wen wollten Sie immer schon mal treffen?

Vermutlich Franz Schubert.

Teenie-Schwarm

Ich hatte Jugendidole wie Wladimir Iljitsch Lenin und später Béla Bartók.

Café-Bestellung

Grüner Veltliner

Ort des Interviews

Café Engländer
Passend zur Lieblingsstadt und zum Lieblingsland von Ippolit Wischinsky, haben wir im Café Engländer zum Interview Platz genommen. Über das Engländer soll einmal gesagt worden sein, dass es wie »ein gut eingetragenes Tweedsakko« sei, nämlich bequem und dennoch elegant. Zu berühmten Gästen zählen unter anderem der Philosoph Peter Sloterdijk, Schauspieler John Malkovich, Künstlerin und John-Lennon-Witwe Yoko Ono und der bereits verstorbene Viennale-Direktor Hans Hurch. Der Inhaber des Café Engländer, Christian Wukonigg, sieht seine Branche übrigens wie ein Theater, bei dem die Akteure ihren Lohn sofort in Form von Applaus bekommen. Neben dem Szenenapplaus dürfte womöglich auch das umgehende Trinkgeld nach einer begeisternden Darstellung gemeint sein. Standing Ovations!