Suche in allen Interviews
Abbrechen
Christian Germin, ehemals Obdachloser, im Interview
 
       
       
Christian Germin

Ehemals Obdachloser

Leben
16.09.2021
Christian Germin ist in Wien im 14. Bezirk aufgewachsen und im 23. Bezirk zur Schule gegangen. Später hat er eine Ausbildung zum Maschinisten gemacht und diesen Beruf mehrere Jahre im Schifffahrtsbereich ausgeübt, bis es zu Kündigungen im Betrieb gekommen ist, von denen auch er betroffen war. Nach einigen Jobwechseln und beendeten Beziehungen ist er 2003 obdachlos geworden und war dies bis zum Jahr 2015. Heute ist er 58 Jahre alt, lebt wieder in einer Wohnung und unterstützt aktuell Obdachlose mit seiner Erfahrung und durch seine Erlebnisse. 

Wie ist es zur Obdachlosigkeit gekommen und was haben Sie davor gemacht?

Ich habe damals, 2003, mit meiner Ex zusammengewohnt. Der Vermieter musste sich entscheiden, ob er sie oder mich weiter in der Wohnung wohnen lässt, und hat sich dafür entschieden, mich rauszuschmeißen.

Warum hat er entscheiden dürfen, wer von Ihnen beiden weiterhin in der Wohnung wohnt?

Es hat kein offizielles Mietverhältnis gegeben und war ein bissl kompliziert.

Wenn man immer wieder in der Wohnung der Partnerin ist, kann nicht überprüft werden, wer dort gerade übernachtet. Das darf jeder Mieter für sich entscheiden.

Es war ein Wohnprojekt für AIDS-Kranke, die sonst keinen Mietvertrag erhalten haben. Darum ging es. 

Hatte Ihre Partnerin oder haben Sie AIDS?

Sie hat AIDS. Ich dachte deswegen einige Zeit lang, dass auch ich infiziert bin, habe mich mit der Zeit aber testen lassen und damit herausgefunden, dass ich es nicht bin.

Wenn Sie sagen, dass der Vermieter entschieden hat, dass Sie gehen müssen, sind Sie von heute auf morgen auf der Straße gestanden. 

Ja, genau.

Wie war das für Sie? Was macht man dann?

Man packt die Dinge, die man am dringendsten braucht, und geht einfach.

Wohin?

Zu den üblichen Plätzen: Karlsplatz und Südtiroler Platz. Damals hat es am Südtiroler Platz ein Abbruchhaus gegeben. Untertags ist dort die Junkie-Szene ein und aus gegangen. Dort habe ich in einem Bett, das ich mir selbst mit Karton gebaut habe, geschlafen. Irgendwann einmal waren dann meine Schuhe in der Früh auf einmal weg. Angenehm war das alles nicht so wirklich.

Wo ich auch noch war: in Abteilen von Zügen, die beim Matzleinsdorfer Platz abgestellt wurden. Solange nicht allzu viel kontrolliert wurde, konnte man dort schlafen. Wenn man Pech hatte, wurde dort kontrolliert und man musste ausziehen.
Im Interview mit Christian Germin, einem ehemals Obdachlosen

Wie war das gerade am Anfang für Sie? Waren Sie wütend auf den Vermieter? Waren Sie traurig? War es aus Ihrer Sicht nur eine Frage der Zeit, bis es so weit kommen musste?

Ich hatte eigentlich immer das Selbstvertrauen, dass mir nichts passieren kann und dass es sowieso wieder aufwärtsgeht.

Wenn man sich ein Abbruchhaus mit Junkies teilt und es morgen vorbei sein kann mit einem: Woher nimmt man dieses Selbstvertrauen, wenn man von heute auf morgen ausziehen muss und nicht weiß wohin man soll?

Man hat immer die Alternative, sich zu überlegen, was man mit dem macht, was man hat. Und ich hatte eben das Selbstvertrauen, dass es wieder besser wird.

Findet man mit der Zeit Freunde oder Verbündete, oder ist jeder gegen jeden?

Vertrauen darf man niemandem, da jeder gegen jeden ist. Sogar ein Packerl Zigaretten wird einem gestohlen.
»Sogar ein Packerl Zigaretten wird einem gestohlen«

Hatten Sie Angst, dass Schlimmeres passieren könnte und Sie nicht nur bestohlen würden? Wenn jemand wegen eines Zigarettenpackerls bestohlen wird, was macht man erst, wenn der andere eine wärmende Jacke hat?

Na, eigentlich nie. Ich habe mich immer recht gut wehren können. Diese Angst hatte ich also nicht.

Österreich gilt als Sozialstaat, in dem man durchs AMS aufgefangen wird, in dem man Notstandshilfe erhält oder in dem es auch unterschiedliche Sozialeinrichtungen gibt. Sind Sie durch all diese Netze gefallen, da Sie auf der Straße gelebt haben?

Na ja, eigentlich bin ich dort freiwillig durchgefallen, weil ich nichts davon angenommen habe.

Warum?

Ich dachte mir, dass ich das eh alleine schaffen werde. Das war die Einstellung, die ich hatte.

Sie wollten sich nicht helfen lassen?

Richtig. Es gab schon immer wieder Angebote. Die muss man aber auch annehmen können. Erst 2015 habe ich jemanden kennengelernt, der mich davon überzeugt hat, dass es besser ist, den normalen Weg zu gehen, langsam wieder etwas aufzubauen und zu einer Wohnung zu kommen.

Warum und wie hat es genau diese Person nach all den Jahren geschafft, Sie zu überzeugen, und alle anderen vorher nicht?

Kann ich nicht sagen. Oftmals ist man halt nur eine Nummer in der Arbeit der Leute. Man wird von vielen nicht mehr als Mensch gesehen.

Es gibt Studien, die besagen, dass man Menschen, die einem ähnlich sind, eher vertraut. Ähnlich bezogen aufs Aussehen oder Auftreten. Das heißt, wenn Leute auf der Straße nach der Uhrzeit, nach Geld oder dem Weg gefragt werden, neigen viele eher dazu, Gleichgesinnten weiterzuhelfen. Anzugträger helfen Anzugträgern, Bettler helfen Bettlern. Haben Sie solche Erfahrungen gemacht?

Ja. Ich hatte natürlich Kontakt zu anderen Leuten. Und wenn jemand eine Information hatte, die man brauchen konnte, habe ich das eher Leuten geglaubt, die mir optisch zugesagt haben. Meist waren das Sozialarbeiterinnen.
»Man wird von vielen nicht mehr als Mensch gesehen«

Wie hat ein Tag während Ihrer Obdachlosigkeit ausgesehen – von früh bis spät?

In der Früh ging’s darum aufzustehen, um Geld und andere Sachen, die man braucht, aufzustellen. Und am Abend ging es darum, wieder alles zusammenzuhaben, um über die Nacht zu kommen.

Hatten Sie fixe Plätze, zu denen Sie immer wieder gekommen sind, oder sind Sie von Bezirk zu Bezirk in unterschiedliche Grätzeln gewandert?

Das Abbruchhaus am Südtiroler Platz war meines. Dort ist niemand, außer mir, reingegangen. Außer eben das eine Mal, als mir die Schuhe gestohlen wurden. Das war vielleicht ein Racheakt. (grinst)

Racheakt wofür? Was haben Sie zuvor gemacht?

Nix hab ich gemacht. Racheakt dafür, dass ich dort geschlafen habe und nicht mehr der andere.

Wenn Sie in einem Abbruchhaus gewohnt haben, wie darf man sich die Hygiene, wie beispielsweise die Morgen- oder Abendwäsche, vorstellen? Toiletten gibt es öffentlich, aber Duschen?

Es gibt in Wien genug Möglichkeiten diverser Tageszentren. Dort kann man sich duschen und auch seine Wäsche waschen.

Haben Sie dann zum Beispiel auch zur kalten Winterzeit, gerade am Anfang, in Tageszentren oder Notschlafstellen Unterschlupf gefunden?

Mein großes Plus war, dass ich einen Zentralschlüssel hatte. Mit dem kommt man eigentlich in jedes Gebäude mit einer Zentralschließanlage rein. Ich habe aber auch auf weichen Türdecken geschlafen.

Mit wie viel Geld kommt man am Tag oder im Monat aus?

Kommt darauf an, was für einen Lebensstandard man hat. Zumindest 10 Euro am Tag braucht man für Essen und Trinken. Wenn alles andere wegfällt, reicht das. Das brauchst du aber auf jeden Fall.

Wie sind Sie zu Geld gekommen?

Schnorren und über ärgere Sachen.

Ärgere Sachen?

Stehlen.

Sind Sie erwischt und festgenommen worden?

Ist auch passiert, ja.

Waren Sie dann auch im Gefängnis?

Nein, das fällt unter Bagatelle, wenn man wo reingeht und was mitnimmt. Was soll ich denn anderes machen, wenn ich aufwache und keine Schuhe mehr habe? Da kann ich nur rein ins Geschäft, Schuhe anziehen und wieder raus damit.

Man hört immer wieder von der »Bettelmafia«. Haben Sie damit Erfahrungen gemacht?

In dem Sinne nicht. Als Österreicher wird man nicht angesprochen. Es gibt allerdings schon einen organisierten Betrieb. Da werden Leute abgeholt von ihren Plätzen, mit der Bim bis zum Treffpunkt gefahren, und dort steigen s’ dann in den Mercedes ein. Habe ich alles erlebt. Die Regel ist das aber, glaube ich, nicht.
Christian Germin, ehemals Obdachloser, im Gespräch

Wenn Sie bis 2015 obdachlos waren und seitdem nicht mehr, wie leben Sie heute, und: Haben Sie wieder einen Beruf?

Ich lebe wieder in einer Wohnung und habe ein geregeltes Leben. Voriges Jahr habe ich einen Kurs für »Peer«-Arbeit gemacht. Es geht darum, dass Leute mit Erfahrungen diese an andere weitergeben. Sozialarbeiter nehmen diese »Peers« mit, um einen weiteren und anderen Blickwinkel für ihre Arbeit zu bekommen. Damit können Situationen anders bewertet werden. Es handelt sich also um einen neuen Berufszweig.

Sie meinten vorhin, dass Sie lange Zeit keine Hilfe angenommen hätten. Geben Sie auch diese Erfahrungen weiter oder muss jeder seinen Weg selbst gehen?

Man kann jedem in einer Krise nur einen Schubser in die richtige Richtung geben. Zwingen kann man niemanden dazu. Solange jemand selbst nicht davon überzeugt ist, das Richtige zu tun, wird man ihn auch nicht davon überzeugen können, es zu tun.

Aufgrund all der Erfahrungen, die Sie gesammelt haben: Gibt es etwas, das Sie allen Leserinnen und Lesern dieses Interviews mit auf den Weg geben wollen?

Ja. Nicht einfach an Bettlern vorbeigehen. Man rutscht schneller ab, als man schauen kann. Da braucht es gar nicht viel. Es reicht schon, wenn man die Arbeit verliert und die Beziehung in die Brüche geht. Und auf einmal steht man auf der Straße und muss selbst den Bettler machen. Man sollte diese Menschen nicht als minderwertig betrachten und probieren, sich in die Situation zu versetzen. Sich fragen: Wie würde es mir dabei gehen?

Wir leben heute in einer Zweiklassengesellschaft. Wenn man heute nicht Teil dieser digitalen Welt und ohne Internet ist, ist man ein Mensch der zweiten Gesellschaft. Vor allem ältere Leute. Ich habe aber auch jüngere Menschen erlebt, die in der Apotheke gestanden sind und nach etwas gefragt haben. Die Antwort, die sie bekommen haben, war, dass sie die Informationen eh im Internet finden. Nur versteht das nicht jeder und nicht jeder hat Zugang dazu.

Lieblings-

Buch: Der Spieler (Fjodor Dostojewski)
Film: Pulp Fiction
Song: Sympathy for the Devil (The Rolling Stones)
Schauspieler/in: Jodie Foster
Motto: Man soll nicht alles so ernst nehmen. 
Autor/in: Fjodor Dostojewski
Serie: Dexter
Stadt: Wien, Hamburg
Land: Holland
Gericht: veganer Nudelsalat
Getränk: Almdudler

Persönliches Mitbringsel

Ein Anhänger von »Wieder Wohnen« der Wiener Obdachlosenhilfe. Die haben mich gerettet und ich habe ihnen viel zu verdanken.
Schlüsselanhänger »Wieder Wohnen« der Wiener Obdachlosenhilfe

Schönstes und negativstes Erlebnis der vergangenen Woche

Schönstes: Das war am Montag, als wir eine Kochgruppe hatten. 
Negativstes: Das war gestern. Ich konnte mit einem guten Ratschlag leider nichts bewirken.

Berufswunsch als Kind

Pilot

Wen wollten Sie immer schon einmal treffen?

Hannes Androsch. Dem hätte ich einiges zu sagen, bezogen auf die Ausführung seines Amtes.

Teenie-Schwarm

Wen ich damals gut gefunden habe, war Mick Jagger von den Rolling Stones. Von den Frauen war es Kate Jackson von »Drei Engel für Charlie«.

Café-Bestellung

Almdudler

Ort des Interviews

Café Rüdigerhof
Das Café Rüdigerhof befindet sich in einem Jugendstilhaus, das 1902 erbaut und vom Architekten Oskar Marmorek entworfen wurde. Geöffnet ist täglich von 9 Uhr vormittags bis 2 Uhr nachts, was vor allem in lauen Sommernächten zum Verweilen im großen Gastgarten mit seinen vielen Bäumen verleitet. Aber auch der stilvolle Innenbereich mit dem klassischen Charme des Wiener Cafés lädt dazu ein, sich auf einen längeren Kaffeeplausch niederzulassen. Der Rüdigerhof befindet sich direkt zwischen den U4-Stationen Pilgramgasse und Kettenbrückengasse auf dem Margaretensteg in der Hamburgerstraße 20 in 1050 Wien.