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Im Gespräch mit Sozialvereins-Obfrau Judith Aschenbrenner
 
       
       
Judith Aschenbrenner

Obfrau des Vereins »Soziales Miteinander im Wienerwald«

Leben
13.07.2022
Nicht unweit von Wien, Richtung St. Pölten, liegt die kleine Marktgemeinde Maria Anzbach mit rund 3.000 Einwohnern. Und genau dort wird das »Karussell« betrieben – eines für Kinder und Erwachsene. Es handelt sich hierbei um das Geschäft des Vereins »Soziales Miteinander im Wienerwald«. Gesammelt werden Sachspenden wie Kleidung, Geschirr, Bücher, Spielsachen, Möbel und Haushaltsgeräte. Alles, was man im »Karussell« findet, kann man für einen kleinen Betrag erwerben oder gegen andere Gegenstände eintauschen. So werden Gegenstände, die vom ursprünglichen Besitzer nicht mehr benötigt werden, nicht weggeworfen, sondern helfen einkommensschwächeren Menschen. Beheimatet ist das »Karussell« im ehemaligen Postgebäude in Maria Anzbach. Seit der Eröffnung 2017 haben über 30 ehrenamtliche Mitglieder mehr als 25.000 Stunden für das Gemeinwohl geleistet, unentgeltlich. Obfrau des Vereins ist Judith Aschenbrenner, die heutige Interviewpartnerin.

Wie ist es dazu gekommen, dass in einem ehemaligen Postgebäude, das keiner mehr brauchte, ein Laden eröffnet hat, in dem Dinge verkauft werden, die vom Besitzer nicht mehr benötigt werden?

Das ganze Projekt geht auf das Jahr 2014 zurück, als ich in Innermanzing in einem Asylwerberquartier gearbeitet habe. Dort waren viele Männer unterschiedlichen Alters untergebracht. Ich habe dort mitgearbeitet, Veranstaltungen organisiert, Deutschunterricht gegeben oder bei Behördenwegen geholfen. Die meisten hatten nur das Gewand, das sie anhatten, und sonst nichts. Wir haben daher oft Gewand erhalten, das meist einfach auf einen Tisch gelegt wurde und ihnen nur selten gepasst hat. Das Ganze war also ziemlich unwürdig. Irgendwann habe ich angefangen, das Gewand bei mir zu Hause aufzubewahren. Als es dann immer mehr wurde, dachte ich mir, dass wir jetzt etwas finden müssen, wo wir die Sachen unterbringen können und wo man einmal die Woche hinkommen kann, um sich durchzuprobieren. Wir haben dann eine ehemalige Trafik in Altlengbach gefunden, die von der Gemeinde gekauft wurde. Es war perfekt für uns, weil noch Regale drinnen waren und wir den Raum damit schön befüllen konnten. Es ist sehr gut angenommen worden, die Spenden wurden mehr, und es kamen immer mehr Leute vorbei, die Hilfe benötigt haben. Irgendwann ist uns der Laden zu klein geworden, weil immer mehr dazu gekommen ist – wir hatten Kleidung, Schuhe, Handtücher, Küchenutensilien, Möbel und so weiter. So ging das dann bis in den Sommer 2016. Als ich dann aus dem Urlaub zurückgekommen bin, habe ich erfahren, dass das Gebäude innerhalb einer Woche abgerissen werden sollte, was uns ziemlich geärgert hat. Aber gut, Schnee von gestern und verziehen. Wir haben ein Ausweichquartier für die notwendigsten Sachen erhalten und gemerkt, dass wir das Ganze nun anders aufziehen müssen – mit Klo, mit fließendem Wasser, mit Heizung und mit Einnahmen, um die laufenden Kosten zu decken. Wenn es nichts kostet, ist es auch nichts wert. Im Oktober oder November 2016 haben wir unseren jetzigen Standort gefunden. Ich kannte die Besitzerin und habe sie gefragt, ob sie sich vorstellen kann, dass wir das bei ihr betreiben. Konnte sie und damit haben wir angefangen auszumalen und im Februar 2017 neu eröffnet.
»Friss oder stirb – so etwas empfinde ich als wahnsinnig unwürdig«

Du hast von unwürdigen Zuständen gesprochen. Wie kann man Würde oder Unwürde beschreiben?

Unwürdig ist es, wenn ich Leute irgendetwas auf den Tisch knalle. Friss oder stirb – so etwas empfinde ich als wahnsinnig unwürdig!

Zum Beginn des Ukraine-Kriegs ist durch die Medien gegeistert, dass eine geflüchtete Familie eine angebotene Unterkunft abgelehnt habe, weil diese ihr nicht gefallen hätte. Das Resultat war kurzzeitige Empörung, weil manche fassungslos waren, wie man diese Hilfe ablehnen kann. Wie siehst du das?

Ich kenne den Fall nicht, daher trau ich mich nicht, ihn zu beurteilen, und kann dazu auch nichts sagen.

Man kann bei euch nicht nur einkaufen, sondern auch eintauschen. Wie oft muss man darauf hinweisen, dass ein gewünschter Tausch womöglich nicht ganz fair ist?

Egal, ob Designerware oder nicht – ein Hemd ist ein Hemd. Wenn es sich ausgeht, geht es sich aus, wenn nicht, dann nicht. Man kann Geld drauflegen, wenn man sich mehr nimmt. Und auch wenn ich merke, dass sich mehr ausgehen würde als ein Tausch, dann weise ich darauf hin, dass wir uns über eine Spende freuen.
Im Interview mit Sozialvereins-Obfrau Judith Aschenbrenner

Als Sozialverein, der alte Sachen wieder funktionstüchtig macht und zum Tausch bzw. Verkauf anbietet, bekommt man sicherlich auch viel Müll »geschenkt«. Bevor man sich den Aufwand antut, etwas wegzuschmeißen, stellt man es euch vielleicht lieber vor die Tür.

Das hatten wir des Öfteren. Wir haben dann – in Abstimmung mit der Gemeinde – ein Gitter mit einer Tafel aufgestellt, dass davor nichts abgestellt werden darf, da sonst die Gemeinde für die Entsorgung zuständig ist und die Verantwortlichen ausfindig machen wird.

In den letzten Monaten und Jahren haben Vereine durch politische Nähe einen eher negativen Touch bekommen.

So etwas versuchen wir absolut rauszuhalten. Wir haben keine Sponsoren und suchen auch nicht darum an. Wenn uns jemand etwas aus freien Stücken schenken möchten, nehmen wir das gerne an. Zu Beginn haben wir von den drei grünen Fraktionen aus Neulengbach, Maria Anzbach und Eichgraben Startkapital erhalten. Es war ein Vorschuss, mit dem wir den Laden eröffnen konnten. Zum vierjährigen Jubiläum haben wir von den Grünen aus Maria Anzbach eine Kaffeemaschine geschenkt bekommen. Sie meinten dazu, dass wir unsere Sache gut machen, wir sicherlich gerne Kaffee trinken und damit endlich mal eine gescheite Kaffeemaschine haben. (lacht) 

Würdest du von jeder Partei Hilfe annehmen?

Ja, da bin ich nicht so. Wir fragen aber nicht um Hilfe an.

Weil du von »Vorschuss« gesprochen hast: Wurde das Startkapital dann wieder zurückgegeben?

Nein, wir haben nicht dafür angefragt und haben es als Spende bekommen, als sie gehört haben, was wir machen wollen.
Im Interview: Sozialvereins-Obfrau Judith Aschenbrenner

In 5 Jahren haben ca. 30 Mitarbeiter rund 25.000 Stunden ehrenamtlich für den Verein gearbeitet. Das sind umgerechnet um die 3 Stunden pro Person in der Woche. Wie ist es zu den 30 Ehrenamtlichen im Verein gekommen, die über die Jahre so viel Zeit investiert haben?

Wir waren sieben Gründungsmitglieder und so sind immer wieder mehr Leute dazugekommen, weil jemand von uns wieder jemand anderen kannte, der mitmachen wollte. Auch von den Flüchtlingen gab es einige, die mitgeholfen haben, weil sie ohnehin einen Job brauchten. Manche von uns haben in ihrer Pension angefangen, ehrenamtlich mitzuhelfen, andere wiederum, als sie in Karenz waren. Die Leute kommen und gehen.

Hast du dir in den 5 Jahren jemals daran gedacht, hinzuschmeißen?

Nein ... wobei ... einmal schon. Über ein paar Leute habe ich mich zu dem Zeitpunkt furchtbar geärgert. Das hat dazu geführt, dass ich an mir gezweifelt habe. Ich wusste nicht, ob ich die Richtige dafür bin. An der Sache an sich habe ich nie gezweifelt.

Was waren in den 5 Jahren die schönsten Momente und was die aufreibendsten Erlebnisse?

Die schönsten Momente sind die, wenn jemand reinkommt und sagt: »Ich will nur etwas abgeben.« Und wenn ich dann frage, ob die Person schon mal bei uns war und sich umgesehen hat, und ich die Antwort bekomme, dass sie noch nicht bei uns war und sich gerne umschauen möchte. Wenn sie dann ganz überrascht sind, was wir alles haben, und dann sogar noch etwas finden, das ihnen selbst gefällt, sind das die Momente, in denen ich mir denke, dass wir etwas richtig gemacht haben. Die meisten sind dann hin und weg und meinen, dass sie auf jeden Fall wieder kommen werden.

Und die Kehrseite?

Man muss sich halt ab und an mal ärgern, das ist aber menschlich und auch nicht so präsent wie die Hilfe, die man Menschen bietet, die ins »Karussell« kommen. Wir sind ja nicht nur ein Ort, an dem man Sachen kaufen und tauschen kann. Manche kommen auch einfach vorbei, um sich auf einen Kaffee zu treffen und gemeinsam zu plaudern und sich auszutauschen.
Gespräch mit Sozialvereins-Obfrau Judith Aschenbrenner

Ihr beschreibt euch selbst auch als interkulturellen Kommunikationstreff. Bei euch scheint es zu funktionieren, wenn mehrere Kulturen aufeinandertreffen. Hat es damit zu tun, dass man in einer kleinen Marktgemeinde nicht anonym ist im Vergleich zu einer Großstadt?

Vielleicht liegt es am »Karussell« und nicht daran, dass es am Land ist. Es handelt sich um Menschen, die für alles Mögliche offene Ohren haben. Und das spricht sich herum. Wenn jemand etwas braucht, dann kommen die Leute zu uns.

Würde euer Konzept in Wien funktionieren?

Kann ich mir gut vorstellen, ja. Ich muss dazusagen, dass es bei uns auch nicht vom einen auf den anderen Tag funktioniert hat. Es hat seine Zeit gedauert.

Ihr packt regelmäßig Kartons zur Unterstützung für Krisengebiete wie bspw. Syrien oder die Ukraine, spendet aber auch Frauenhäusern und der Caritas. Ihr unterstützt Familien zum Schulstart oder mit Zuschüssen für Heizung und Miete und geht damit weit über den Tellerrand der eigenen Marktgemeinde hinaus.

Genau, wir haben auch schon zweimal bei der Ausbildung zur Heimpflege unterstützt oder Familien dabei geholfen, dass die Kinder auf Schulsportwoche fahren können. 
»Fremd sind Leute nur, wenn man sie nicht kennt und nichts von ihnen weiß«

Wie erklärst du es dir, dass in Österreich eine gewisse Vorsicht fremden Nationen und Kulturen gegenüber besteht und gleichzeitig eine große Spendenfreudigkeit vorherrscht? Einerseits bekommen rechte Populisten Zuspruch, andererseits werden jedes Jahr Millionen gespendet für Initiativen wie »Nachbar in Not« oder »Licht ins Dunkel«.

Zuspruch bekommen rechte Populisten dort, wo es keine Fremden gibt. Fremd sind Leute nur, wenn man sie nicht kennt und nichts von ihnen weiß.

Ganz stimmt das aber nicht. Bei seiner letzten Wien-Wahl als FPÖ-Obmann hat Strache rund 30 Prozent an Stimmen erhalten. Wien ist ein Schmelztiegel der Kulturen.

Das stimmt schon. Dennoch waren Gemeinden ohne fremde Kulturen am meisten gegen Flüchtlinge – viel stärker, als Stimmen in Wien dagegen laut wurden. Die, die mit Fremden in Kontakt kommen, mit ihnen reden und von ihrem Leben erfahren, haben davor keine Angst mehr, weil es eben nicht mehr fremd ist. Ich hatte früher einen VW Sharan mit sieben Sitzen, was perfekt war, um mehrere Leute zu befördern. Ich hatte damals sechs Männer aus unterschiedlichen Nationen mit unterschiedlicher Hautfarbe in meinem Auto sitzen. Wir sind von A nach B gefahren und haben dieses und jenes erledigt. Ich wurde dann angesprochen und gefragt, ob ich keine Angst habe, mit so vielen fremden Männern herumzufahren. Meine Antwort war: »Nein, ich habe sechs Beschützer bei mir.« (lacht) 

Was sagst du Menschen, die Vorbehalte gegen andere bzw. fremde Kulturen haben?

Etwas, das man nicht kennt, ist einem oft unheimlich. Das ist vollkommen klar. Es lohnt sich aber, das andere anzuschauen, um es kennenzulernen. Man kann sich von der anderen Kultur dann einiges mitnehmen oder auch froh sein, dass es bei uns anders ist. Das wird man in jeder Kultur finden. Jeder Mensch sollte als wertvolles Lebewesen betrachtet werden. Das ist das Grundprinzip, ohne dem man keine richtige Konversation mit Wertschätzung führen kann. Man sollte also hinschauen, gemeinsam reden und dem anderen wirklich zuhören. Dann ist die Angst meist weg.

Wann hast du dich das letzte Mal dabei ertappt, dass du Angst vor etwas Fremdem hattest?

Daran kann ich mich ehrlicherweise nicht erinnern.

Auch an keine Vorurteile?

Das ist ein breit gestecktes Spektrum.

Ja, ich weiß.

Vorurteile habe ich – wenn ich sie habe – nicht nur gegen Fremde, sondern teilweise auch gegen Einheimische. Da geht es dann vor allem um sowas wie: »Na eh klar, dass die so reagieren.« Gut, was soll’s. »Jo, eh« werden sich andere über mich genauso denken. Man ist, wie man ist, und jeder hat sein Binkerl, das er mit sich trägt, inklusive der dazugehörigen Erfahrungen.

Wenn du dir für euren Verein etwas wünschen könntest, was wäre es?

Mehr junge Leute, die mitarbeiten. Wir werden älter! (lacht)

Lieblings-

Buch: Momo (Michael Ende)
Film: Fuchs im Bau
Song: Zu viele.
Schauspieler/in: Mercedes Echerer, Tom Hanks
Motto: Kurze Wege und Nachhaltigkeit – liebe und lebe das Leben!
Autor/in: Da passe ich.
Serie: Ich habe keinen Fernseher.
Stadt: Amsterdam, Kopenhagen
Land: Österreich – wir sind hier sehr privilegiert 
Gericht: gut gewürzt und vegetarisch
Getränk: Wasser

Schönstes und negativstes Erlebnis der vergangenen Woche

Schönstes: Mein Mann ist Musiker und Instrumentenbauer. Letztens spielte er auf einer Vernissage. Da diese um 19:00 Uhr stattgefunden hat, wäre für meine Enkelin eigentlich schon Schlafenszeit gewesen. Meine Tochter und unser Schwiegersohn sind mit unserer Enkelin trotzdem vorbeigekommen, was wunderschön war.

Negativstes: Es ist nichts Schlimmes passiert.

Persönliches Mitbringsel

Zwei Fotos – einmal eines von meinem Glashaus in unserem Gemüsegarten und einmal eines von unserem Hochbeet-Garten auf dem Flachdach unserer Garage. Es handelt sich dabei um meine Überzeugung, meine Leidenschaft, meine Freude und meine Plätze, um mich zu erden. Ich möchte, so viel es geht, selbst anbauen, ernten und in der Küche verarbeiten. Es sind kurz Wege, alles ist bio und ich kann mich darauf verlassen. Manchmal zersteche ich mir dabei auch meine Finger. Aber gut ... das ist das Leben.
Glashaus und Gemüsegarten

Berufswunsch als Kind

Zur Schulzeit wollte ich Chemikerin werden. Nach der Schule habe ich die Aufnahmeprüfung geschafft, hatte allerdings den Mangel, eine Frau zu sein. Mir wurde offen ins Gesicht gesagt, dass die Burschen genommen wurden, weil die Mädels sowieso aussteigen werden. Das war sehr beleidigend. Ich habe dann die Handelsschule gemacht, mich der Wirtschaft gewidmet und bin Buchhalterin geworden.

Wen wolltest du immer schon einmal treffen?

Da gibt es einige. Und gleichzeitig weiß ich, dass es keinen Sinn hätte und verlorene Liebesmüh wäre.

Teenie-Schwarm

James Dean

Café-Bestellung

Soda-Zitron

Ort des Interviews

Mo’s 
Stattgefunden hat das Interview in einer der Nebenortschaften von Maria Anzbach: Eichgraben. Eingekehrt sind wir ins »Mo’s« am Rathausplatz 1. Wie auch Interviewpartnerin Judith Aschenbrenner setzt das »Mo’s« auf kurze Wege, Regionalität und Saisonalität. Und so werden auf der Website alle Lieferanten transparent angeführt – vom Fleisch über den Fisch, vom Öl über Obst und Gemüse bis hin zum Eis, den Mehlspeisen, Milchprodukten und Getränken.